Aberglaube gegen Wissenschaft

In dieser Woche war in Leer die Landesbühne mit dem ersten Stück der neuen Spielzeit zu Gast. Eine neue, moderne Bühnenfassung der Novelle “Der Schimmelreiter” von Theodor Storm.

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Der Bauernsohn Hauke Haien ist von der See, dem Deichbau, der Wissenschaft und der Mathematik besessen. Als er die Tochter des Deichgrafen nach dessen Tod heiratet, erbt er dessen Amt und entwickelt einen ehrgeizigen Plan für einen neuartigen Deich. Doch er hat die Trägheit und vor allem den Aberglauben der Dorfgemeinschaft unterschätzt. Und so wird sein neuer Deich vor der ersten großen Sturmflut nicht fertig und für ihn und das Dorf zum Verhängnis.

Zuerst Bedenken

Ich muss zugeben, ich hatte Bedenken gegen eine Neuaufführung des alten Stoffes, auch wenn Storms Novelle gegen den Aberglauben im Zeitalter rasch um sich greifender Verschwörungstheorien (dem modernen Aberglauben) traurigerweise brandaktuell ist.
Häufig gehen Modernisierungen alter Stoffe leider häufig genug daneben, wenn sich Regisseur*innen an aktuellen Themen abarbeiten. Stoffe werden vom Wollen bis zur Unkenntlichkeit überdehnt. Aber die Landesbühne ist mit ihrer Inszenierung in keine der Fallen getappt.

Der Wiener Regisseur Gernot Plass, der die neue Bühnenfassung auch geschrieben hat, widersteht der Versuchung, die Handlung der Novelle schlichtweg in die Neuzeit zu verlegen. Dabei arbeitet er mit einem erzählerischen Trick, den schon Storm anwendet: Er lässt in einer rauen Sturmnacht die Geschichte von einem Erzähler berichten, der sie als Kind im Hause seiner Großmutter in einer Zeitschrift gelesen hat. Innerhalb dieses Rahmens übernehmen dann die Schauspieler als Gruppe mal abwechselnd, mal chorisch das Erzählen der “unerhörten Begebenheit”.

Text und Bühnenbild

Plass hat seinem Bühnentext die Form des lyrischen Blankverses gegeben, mischt alte mit moderner Umgangssprache und streut als Lokalkolorit hier und da ein paar Sätze Dialekt mit ein. Das funktioniert wunderbar, ergibt Spannung, Atmosphäre, aber auch eine Menge an klugem Humor. Es ist ein starker, kraftvoller Text, der trotzdem ganz ohne Pathos auskommt. 

Das Bühnenbild könnte reduzierter kaum sein. Eine begehbare Schräge im Hintergrund symbolisiert den Deich, ein weißer Stuhl den Schimmel, und eine Reihe Stühle samt zweier Tische lassen wahlweise das Wirtshaus, Haiens Elternhaus, das Haus des Deichgrafen oder den Dorfplatz entstehen. Und eine gut gesetzte Beleuchtung schafft dichte Atmosphären, egal ob eine Szene am Tage im Haus spielt oder nachts auf dem Deich, wo zwei Nebelmaschinen noch für die Extraportion Watt-Grusel sorgen.

Die Regie

In und mit diesem Bühnenbild lässt der Regisseur Plass seine Schauspieler*innen agieren. Er beherrscht die Nutzung des fast leeren Raumes und die Kunst, seine Schauspieler*innen wirklich als Ensemble und nicht als eine Gruppe von Einzelakteur*innen über die Bühne zu schicken,
wobei er sie in guter alter Brechtscher Manier zusammen die Geschichte erzählen und die Figuren darstellen lässt: Hier findet keine Identifizierung der Schauspieler*innen mit den Figuren statt. Die Schauspieler*innen schlüpfen während des Spiels in die Figuren, zeigen deren Verhalten und schlüpfen danach wieder in die Rolle der Erzähler*innen zurück. 
Diese Art des Spiels unterstreicht den erzählenden Charakter des Stückes, bricht den Text auf, zeigt Figuren, Handlungen und Zusammenhänge, lässt Platz für Kommentare und führt den alten Stoff ganz unsentimental in die Moderne. Und das funktioniert wiederum ganz wunderbar, weil ja auch die Technik des Brechtschen Theaters nicht mehr ganz jung und frisch ist, aber immer wieder für erfrischend neue Betrachtungsweisen auf ältere Texte sorgt.

Und die Schauspieler*innen?

Julius Ohlemann zeigt einen erwachsenen, tatkräftigen Hauke Haien, der zwischen Tatendrang, Hybris und Verzweiflung wechselt, Anna Gesewsky eine Elke (Tochter des Deichgrafen), die klug, gewitzt, besorgt und lebensfroh ist. Sie sind die Hauptfiguren des Stückes. Aber Franziska Kleinert, Johanna Kröner, Philipp Buder, Aom Flury und Johannes Simons spielen die anderen Rollen so körperbetont, eindrücklich und präsent, dass das gesamte Ensemble als eine große, in sich stimmige Einheit fungiert. Hier sieht man, dass die Schauspieler*innen oft und gerne zusammenarbeiten und eine expressive, bis ins Detail stimmige Gruppe bilden.

Selten hat mich ein Theaterabend so überzeugt wie dieser. Er ist stimmig, spannend, inspirierend, klug, witzig, bewegend – kurz: Der Schimmelreiter der Landesbühne ist eine großartige Inszenierung, an der wirklich einmal alles stimmt.

Es gibt noch bis November einige Aufführungen in Wilhelmshaven und in den anderen Spielstätten der Landesbühne, in Aurich, Norden, Emden usw.
Hier der Link: https://landesbuehne-nord.de/stueck/schimmelreiter-2/2018-09-01